Im Glutofen

Raus aus den Bergen, hinab in das tiefer gelegene iranische Hochplateau, das weiter Richtung Osten in die großen Wüsten übergeht. Wie eine grüne Ader schlängelt sich der Zayandeh Rud durch den kargen felsigen Boden, aus dem sich irgendwann die Stadt Isfahan erhebt. In ihrer mindestens 2500jährigen Geschichte wurden so zahlreiche Paläste, Minarette, Moscheen, ja sogar eine armenische Kirche, Basare und Parkanlagen gebaut, um wochenlang in eine andere Zeit abtauchen zu können.

Doch wir haben zu allererst bzw. immer noch etwas ganz profanes im Kopf: Die Beschaffung von Babygläschen. Bereits in Borujerd hatten wir vergeblich danach gesucht. Man hatte uns aber die Hoffnung gemacht, in Irans drittgrößter Stadt fündig zu werden. Das Projekt „Die Beschaffung von Babynahrung in Gläschen im Iran“ tragen wir in Isfahan nach einer dreistündigen Odyssee endgültig zu Grabe. Ab jetzt machen wir Obstbrei selbst. Basta!

Noch ein Hinweis: Es ist im Iran kein Problem Babynahrung in Pulverform zu bekommen. Viele Apotheken bieten 4 bis 6 Produktvarianten in Büchsen an, unter anderem von Nestlé. Auch Windeln haben wir dort bekommen, allerdings bei weitem nicht so komfortabel wie bei uns in Europa. Der Plastikanteil ist spürbar hoch. Übrigens hatten wir in der Türkei derlei Probleme überhaupt nicht.

Keine Seltenheit scheint hier das Spielen der Kinder in den Parks bis nach Mitternacht zu sein, denn um diese Uhrzeit liegen die Temperaturen knapp unter 30°C. Viele der schon 5 oder 6 Jahre alten Mädchen tragen den schwarzen Tschador. Nicht ohne Stolz rücken sie ihn immer wieder zurecht.

Zugegeben, bei so viel Kopftuchthema in unseren Berichten entsteht schnell der Eindruck, dass wir den Iran auf dieses reduzieren. Für Nikita ist es aber den ganzen Tag unangenehme Realität – hier und jetzt noch mehr als je zuvor. Zu einer anderen Jahreszeit würde sie nicht so viel Anstoß daran nehmen. Aber als Kind freiheitlicher Kultur sorgt ihr unerfülltes Bedürfnis nach freier Wahl der Kleider für fast permanente Frustration. Sie ist nicht mehr bereit, sich als Nichtmuslimin an die Regeln der vom Islam geprägten Kultur und Politik zu halten – doch sie muss.

Bei unserer Ankunft in der Stadt sind wir froh einigermaßen schnell einen übernachtungs-fähigen Parkplatz direkt an der Straße (nicht der offizielle in den Park eingerückte Parkplatz!) zu finden, der am Nachtigallenpark drei Minuten zu Fuß vom Hascht-Behescht-Palast und zehn Minuten von einem der populärsten Orte des Iran entfernt liegt, dem Imam-Platz, eine weitere UNESCO-Welterbestätte. Noch am Abend machen wir uns auf den Weg durch den Nachtigallenpark zum Hascht Behescht. Alle Zugänge zum Park sind mit diesen Schikanen versehen. Von der Hitze, den Geschichten aber auch den Kindern sind unsere Hirne inzwischen so weich geklopft, dass unser erster Gedanke bleibt, dass diese Schikanen dazu dienen, eine kritische Masse – bei Protesten etwa – besser kontrollieren zu können. Auch die Zugänge anderer Orte, wo sich Menschen versammeln können, wie der Imam-Platz, sind damit verbaut. Erst viel später erwägen wir die viel harmlosere Erklärung, dass dies auch schlichtweg dazu dienen könnte, Mopeds und Derartiges von diesen Plätzen fernzuhalten.

Schon Parviz Satwat hat uns die Isfahanis unterkühlter als beispielsweise die Aserbaidschaner im Nordwesten des Landes beschrieben. Vielleicht sind wir aufgrund dessen voreingenommen und empfinden sie genau deshalb so. Vielleicht sind es auch wir, die langsam von den uns einschränkenden Kleidervorschriften bei 45°C unter den selbst gewählten Lebensbedingungen die Nase voll haben und den es daher an Aufgeschlossenheit mangelt.

Der hohe Staubgehalt in der Luft verhüllt die Sonne und verkündet schon sehr früh das Ende eines heißen Tages, obwohl sie noch gar nicht so tief steht. In dieser verfrühten Abendstimmung denken wir eine glühende Stadt zu verlassen. Doch außerhalb Isfahans auf der Autobahn Richtung Teheran machen wir eine sonderbare physikalische Erfahrung. Da wir keine Klimaanlage haben, suchen unsere Arme instinktiv Abkühlung bei heruntergelassenen Fenstern. Noch nie hat uns diese Vorgehensweise enttäuscht. Jetzt schon. Wir können uns das nur so erklären: Die extrem trockene, heiße und schnell vorbeiströmende Luft trägt den für den thermodynamischen Kühleffekt wichtigen Feuchtigkeitsfilm auf der Haut so schnell ab, dass sie die Haut sogleich aufheizt. Wir kurbeln die Fenster schnell wieder hoch, schauen uns an, dann aufs Thermometer: 49,5°C außen, 45,8°C innen um 19 Uhr!

Der aufmerksame Leser darf sich jetzt zwei Dinge fragen. Wie kann es draußen heißer sein als im Auto ohne Klimaanlage? Und: Wie heiß war es wohl gegen 14 Uhr? Nun, in Isfahan standen wir unter schattenspendenden Bäumen und hatten dort alle Einfachfenster (Seitentüren und Front) mit maßgeschneiderten zwei Zentimeter dicken, alubedampften PU-Schaumplatten isoliert, an denen Niklas noch in der Türkei bei Tagestemperaturen von 18°C zum Spott Nikitas gearbeitet hat.

Die Autobahn ist zu unserer Überraschung mautpflichtig. Dummerweise ist uns der Rial ausgegangen, und Geld lässt sich häufig nur in größeren Städten wechseln. Doch an keiner der vier Mautstellen haben wir Probleme ohne zu zahlen durchzufahren. Unangenehm aber angemessen aus Respekt ist nur, dass wir vor jeder Mautstelle das Auto stehen lassen müssen, um vorher den Dienstleistenden unsere Situation zu schildern. In diesen 5 Minuten heizt sich der Fußboden vom Asphalt und dem laufenden Motor (Er sollte laufen, weil die Gefahr besteht, dass der Turbolader gerade bei diesen Temperaturen im Stand nach langen und schnellen Fahrten durchbrennt.) so stark auf, dass wir trotz Bodenisolierung weder barfuß treten noch auf ihm sitzen wollen. Und das ist jetzt nichts für Sicherheitsfanatiker, wie wir Deutschen es sind, sondern für Pragmatiker: Auf längeren Fahrten spielt Nikita mit Estha auch auf dem Fußboden. Ohne Abstriche bei der Sicherheit sind solche Distanzen mit einem einjährigen Kind nicht zu bewerkstelligen.

Wir entwickeln eine regelrechte Hitzevermeidungsstrategie. Die Notwendigkeit dazu kann man nur begreifen, wenn man es selbst erlitten hat. In Sorge diese Nacht wegen der Hitze wieder einmal nicht so recht schlafen zu können, nehmen wir einen extra Umweg in Kauf und steuern am Rande der Wüste von der Autobahn auf Höhe Kaschans südwestlich in die Berge, denn schon bald werden uns keine Berge mehr zur Seite stehen. Leider haben wir kein ausreichend detailliertes Kartenmaterial, auch praktisch schon lange kein Internet mehr, um Google Maps bemühen zu können, und unser Navi hat für den Iran nur noch ein zu grobes digitales Höhenmodell, so dass wir beinahe navigationsblind und im Dunkeln einen Weg hinauf suchen. Das Ende der Route vom 30.06.2011 zeugt von diesem Irrweg. Und so kommen wir nicht das erste Mal Mitten in der Nacht im Irgendwo an und scheuchen Hunde und nichtsahnende Dorfbewohner auf, um dann zu realisieren, dass die Bemühungen um eine erholsame Nacht umsonst waren. Wegen der hohen Temperaturen sind einige Schlauchanschlüsse der Druckwasserleitung undicht geworden. Es ist auch nicht das erste Mal, dass Niklas bis tief in die Nacht (3:30 Uhr) arbeitet oder schreibt und nicht das erste Mal, dass wir nächsten Tag schlafwandelnd unterwegs sind – eigentlich ein Dauerzustand.

Am nächsten Morgen ringen in uns Erschöpfung und Neugier. Auch wenn sich unsere Neugier durchsetzt und wir die Wüstenstadt Kaschan besuchen, ist die Erschöpfung immer an unserer Seite. Hätten wir in der Wikipedia vorher diesen Satz gelesen: „Durch die tiefgelegene Lage kann sich Wärme innerhalb des Tals aufstauen und die Sommer besonders heiß werden lassen.“, hätten wir ganz bestimmt anders entschieden, gerade auch, weil wir dort wieder kein Geld wechseln werden. Doch gut so, denn sonst hätten wir nicht das Khane-ye Boroudjerdiha mit dem wohl schönsten Bagdir (Windturm) Kaschans gesehen. Wir hätten auch nicht mit einem Muezzin allein in einer Moschee verbracht, während er ein viertelstündiges Gebet ausruft.

Uns treiben, ja hetzen zwei Umstände weiterzufahren. Das ist der Termindruck, zu Elias Einschulung sechs Wochen später in Berlin zu sein und die Erlösung, die uns der 5610 Meter hohe Damavand oder vielmehr das ihn umliegende Elburs-Gebirge mit dem nördlich anschließenden Kaspischen Meer verspricht. Wir sind erstmals in Vorurlaubsstimmung!

Unser Bargeldproblem lösen wir erst am Flughafen südlich von Teheran. Das isolierte Land will sich am Tor zur Welt nicht blamieren und stellt hier mobiles Internet in endlich brauchbarer Geschwindigkeit zur Verfügung. Seit drei Wochen haben wir keinen Kontakt mehr zur Heimat. Jetzt wird das nachgeholt. Erwartungsgemäß findet auch hier eine neugierige Seele den Weg zu unserer Wohnmobilie. Erstmals sprechen wir mit einem Iraner, der hinter der politischen Führung seines Landes steht. Nach den Torturen, die wir immer noch erleben, nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund und sagen geradezu was wir vom gegenwärtigen Iran halten. Er wollte das wissen.

So nah sind wir dran und lassen es doch links liegen: Teheran. Noch in Täbris wurden wir gewarnt, dass man für die Durchquerung des Teheraner Großraums mit dem Auto einen Tag veranschlagen sollte. Und das bei diesen Temperaturen? Niemals! Auf dem Weg zum Damavand ist es aber unvermeidlich diesen Moloch zu streifen. Es dauert nicht lange, da fahren wir auch schon stop-and-go. Dann lassen wir auf einer imposanten Schnellstraße entlang des Elburs-Gebirges den 13-Millionen-Großraum zügig hinter uns, um kurz darauf in einer einspurigen Warteschlange aus Blechkisten die Berge hinaufzukriechen bis der ganze Zug einfach steckenbleibt. Wir haben die Nase voll, reißen aus, versuchen auf eigene Faust mit Hilfe von Google Maps (ja, wir haben manchmal noch Internetreste) eine Umgehung zu suchen, bleiben aber kläglich in einer Sackgasse stecken. Den zweiten Ausreißversuch starten wir mit zwei Einheimischen, die uns mehrfach versichern müssen, dass sie einen Weg kennen und dass unser Fahrzeug ihn auch bewältigt. Es wird ein so noch nie erlebter Präzisionshindernislauf durch mit den Bergen verwobenes Siedlungsgebiet. An der Tankstelle vorhin wurden wir noch übers Ohr gehauen (auch eine verwirrende Geschichte), davor haben wir viel zu viel für einfachen Kebab mit Reis gezahlt. Längst ist es dunkel, die Siedlung hinter uns, von der Hauptstraße nichts mehr zu sehen und der Weg unheimlich. Da beschleicht uns das Gefühl der Angst, dass wir hier eine richtig fette Beute darstellen. Unsere Eskorteure sind zu fünft, männlich, jung, hatten Einblick in unser Auto und fahren jetzt auf zwei Autos verteilt vor und hinter uns. Wir gehen, doch jeder für sich, mögliche Szenarien im Kopf durch.

Erst als wir wieder auf die Passstraße stoßen, atmen wir auf und bedanken uns – für Westeuropäer – überschwänglich. Doch das Schneckentempo geht weiter. Dieselruß (neudeutsch: Feinstaub) liegt in der Luft. Wir sind inmitten gigantischer Berge, doch sehen nur soviel wie der Lichtkegel der Frontscheinwerfer hergibt – einen winzigen Ausschnitt. Die nächste Abbiegung ist unsere, bleiben direkt an der Straße mit Quellwasser stehen. Es liegen 452,5 iranische Kilometer hinter uns. Schluss! Aus! Feierabend!

Unter Spitzeln

Wo findet man hier nun im Sommer einen natürlichen Schutz vor Sonnenstrahlung und Hitze?

Unterwasser ist gut, aber das meinen wir nicht. In unserem Wohnmobil bestimmt auch nicht, da wir zu unserem endlosen Bedauern keine Klimaanlage haben.

Die Antwort steckt hier drinnen.

Und es ist nicht irgendeine. Es ist die Tropfsteinhöhle Ali Sadr. In der größten Höhle des Iran (11 Kilometer lang) werden wir an ein Tretboot angekettet über 1 Stunde lang durch ein Labyrinth aus engen Gassen und riesigen Kathedralen geführt. Die Faszination dieses Ortes lässt sich nicht fotografieren und nur schwer beschreiben. Daher kürzen wir ab: Ein Muss für jeden Iranreisenden!

Noch am selben Tag erreichen wir Hamadan, Wohn- und Begräbnisort des Avicenna, der bei uns besonders für sein Werk „Kanon der Medizin“ bekannt ist. Der Weg zu unserem Schlafplatz an einem Wasserfall unweit der Berge führt an einem surrealen Ort vorbei. Eine nagelneue, menschenleere Betonlandschaft gespickt mit überbordender Symbolik und militärischen Allegorien erinnert an die Orte, wo sich das Dritte Reich selbst feierte.

Es ist bereits dunkel als wir eine Horde Jugendlicher aus einem Auto steigen sehen, die sogleich bei halblauter Musik auf der Straße anfangen zu tanzen. Im Iran ist Tanzverbot. Und so dauert es keine 10 Sekunden, da es Rufe der Anwohner gibt und die Jugendlichen so schnell wie gekommen wieder verschwunden sind.

Unsere nächsten Kidnapper warten schon weiter südlich in Borujerd. Zunächst bieten Sie uns ihre Hilfe an, die wir eigentlich auch gebrauchen können, denn es sind die uns heiligen Babybrei-Gläschen ausgegangen, die uns am frühen Morgen qualvolles Zu-früh-Aufstehen ersparten. Esthas Energiespeicher sind noch zu klein um eine komplette Nacht zu überstehen. Da ist der Griff nach dem Gläschen ein Segen. Die gemeinsame Suche mit ihrem Auto in dieser Stadt bleibt erfolglos, dafür sind wir uns nun ein wenig näher gekommen. Sie laden uns auf ein Eis ein, das wir aber nicht an der Eisdiele um die Ecke essen, die wir im Iran äußerst selten gesehen haben, sondern bei Ihnen gegenüber auf der anderen Straßenseite zu Hause. Das vierstöckige Wohnhaus mit Fahrstuhl und Fahrstuhlmusik gehört der Familie selbst. Die Wohnung ist mit allem Komfort und Technik ausgestattet, von dem schätzungsweise 95 Prozent der Iraner träumen dürften. Mit Stolz präsentiert uns das pensionierte Familienoberhaupt ein Gewehr der Wehrmacht. Ein großer Esstisch mit Stühlen, das nur das hintere Haar verdeckende Kopftuch bei den Frauen, die 7 Satellitenschüsseln und 1500 Fernsehsender (Ist das wahr?) zeigen uns, dass diese Familie ausgesprochen westlich orientiert lebt. Das Eis noch essend werden wir zum Abendbrot eingeladen. In Windeseile wird Kebab vom Vater selbst zubereitet. Auf dem Dach wird routiniert die Grillkohle mit einem Ventilator durchgeheizt, Kebab- und Tomatenspieße darauf. Fertig! Dann runter an den Tisch bei Reis, Salat, Brot, Cola und Dugh, ähnlich dem uns in Deutschland bekannten türkischen Ayran. Da sie zuvor auch englischsprechende Verwandte eingeladen haben, fällt auch die Konversation leichter. Wir stehen gegenseitig Rede und Antwort. Wie sehr die Perser die Araber verachten wird uns hier noch einmal sehr deutlich gemacht. Erschöpft und dankbar nehmen wir ihr Angebot, falsch, ihr Wunsch bei ihnen zu übernachten an. Wir bekommen ein eigenes Zimmer und ein Bad mit Dusche. Haare schneiden und mal richtig duschen sind schon lange überfällig.

Wir verabschieden uns nächsten Mittag – reorganisiert, frisch und gut gelaunt. Das muss der Grund sein, weshalb wir erst in Chadegan halten, um uns – ganz banal – eine Melone und ein Paar Kleinigkeiten für eine Pause zu besorgen. Doch uns zieht es an den nahegelegenen Stausee, der das Wasser für Irans populärste Stadt zurückhält, Isfahan. Intuitiv suchen wir die nächste Möglichkeit von der Hauptstraße rechts abzubiegen. Es scheint pures Glück, als sich ausgerechnet dort eine grüne Freizeitoase auf einem großen Plakat ankündigt. Nie zuvor haben wir in dieser Ödnis so etwas gesehen! Eine lange künstlich bewässerte Allee führt an eine Schranke. Wir fahren rechts neben der Straße auf einen Parkplatz, der sich hinter der Schranke und einem kleinen Verwaltungsgebäude wieder der Straße öffnet. Etwas ungläubig fahren wir darauf zu, als ein Wachmann in Militäruniform uns hektisch zu verstehen gibt, dass wir uns in dem Verwaltungsgebäude melden sollen. Dort sticht Niklas der Slogan „Down with Israel!“ ins Auge. Ein freundlicher Iraner hilft Niklas bei der Beantragung unseres Aufenthalts. Zunächst wird aber Rücksprache mit einem im Hintergrund sitzenden hageren Mann mit 3-Wochen-Bart und schütterem Haar gehalten, der uns den Aufenthalt genehmigt, nicht aber ohne Niklas Ausweis einzubehalten und einen für iranische Verhältnisse stattlichen Betrag zu kassieren. – Wollten wir nicht eigentlich nur Rast am Wasser machen? – Nun dürfen wir das Areal befahren. Ein künstliches Paradies aus Ferienhäusern, Villen, Vorgärten und Rasenlandschaften kommt zum Vorschein. Unser erster Gedanke ist: Hier hat sich die politische Elite einen Ort der Zuflucht geschaffen. So nah am Wasser, doch wo ist der Zugang? In diesem Geflecht aus Einbahnstraßen und Sackgassen geben wir entnervt unser Ziel auf und parken das Auto neben einer Rasenfläche nahe eines abgezäunten betonierten Bereiches, wo Eltern ihre Kinder Elektroautos fahren lassen. Wir sind nun in Amerika. Zunächst picknicken wir, dann wird unser großes Kind von einem Mann mit seiner kleinen Tochter zum Elektroautofahren eingeladen. Der adrett gekleidete Mann gibt sich als Ingenieur in der Raketenforschung aus, später meint er außerdem im Fremdenverkehr zu arbeiten und auf dem Gelände einige Villen zu vermieten, die er uns explizit anbietet. Dann wird er von einem Mann herangewunken, mit dem er schnell verschwindet um gleich darauf wieder aufzutauchen. Er möchte wissen was wir vorhaben. Wir erzählen, er gibt uns Tipps. Aber trotzdem sind seine Aussagen inkonsistent, ist er sprunghaft, verunsichert. Auch die Frauen sind hier mustergültig gekleidet. Der Verdacht liegt nun so nahe mit einem Spitzel in einer Regierungshochburg zu verkehren, dass wir keine große Lust mehr haben, hier zu bleiben. Ein anderer Verdacht liegt aber genauso nahe: Sind wir jetzt auch paranoid?

Auf unserem Navi zeigt sich der Stausee gewaltig, so dass Niklas auf die Idee kommt, dass da eine riesige Staumauer sein muss, die er unbedingt Elias zeigen möchte. Doch es ist nur konsequent, dass der Zugang weiträumig gesperrt und nur mit einer Genehmigung möglich ist. – Hat die Regierung wirklich so viel Angst vor einem Terroranschlag auf das Lebenselixier von circa 2 Millionen Menschen? Na klar. Wie dumm von uns.

Und dass wir uns gern auch mal als Terroristen fühlen dürfen, ist dem morgendlichen Erlebnis des nächsten Tages geschuldet. Entnervt und vollkommen übermüdet ließen wir noch in der Nacht unweit der Checkpoints unser Heim am breiten Straßenrand stehen. Wir sind gerade aufgestanden, da hält ein Moped neben uns. Der junge Iraner beäugt unser Wohnmobil aus respektabler Distanz, fährt davon und kommt wieder. Dann nimmt er umständlich Kontakt zu uns auf, möchte uns zu sich nach Hause einladen. Wir sagen zu. Es ist anstrengend sich mit ihm zu unterhalten, da er nur bruchstückhaft Englisch spricht. Wir vertrösten ihn auf eine halbe Stunde, da wir noch essen. Er kommt nach 15 Minuten wieder. In seiner Ungeduld und Unbeholfenheit meint er, dass wir aussähen wie Terroristen. – Hat er die Kinder nicht gesehen oder ignoriert? – Nun gut, irgendwie ist das ja auch lustig. Der Sinn steht uns nach Abenteuer, weshalb wir uns von ihm an den Checkpoints vorbei (nicht hindurch) in sein Dorf zu ihm nach Hause eskortieren lassen. Die einst armen Dorfbewohner werden von dem Bau des Staudamms profitiert haben und von dem Sicherheitsappart immer noch profitieren. Davon könnte der nun mehrstöckige Rohanbau mit dem kümmerlichen Hauptgebäude erzählen. Davon könnte auch sein Bruder erzählen, der als Wachmann an ausgerechnet einem dieser Checkpoints Wache schiebt und uns trotzdem nicht zum Damm fahren lässt beziehungsweise lassen darf. Wer an diesem Ort in diesem Dunstkreis aufwächst, darf uns als Terroristen sehen. Und es wundert nicht, das wir ausgerechnet in der Nähe dieses große Werbeplakat (Bitte in der Bildgalerie unten suchen!) sehen. Wäre er nicht so freundlich zu uns und wollten wir ihn kränken, wären wir wegen der Verständigungsschwierigkeiten und des Unbehagens, die diese ganze Region bei uns auslöst, auch nicht so lange geblieben.

Aus Sorge, dass wir den Iran nicht mehr rechtzeitig verlassen können und wir zu spät zu Elias Einschulung in Deutschland sein werden, haben wir in den letzten Tagen gewaltige Distanzen (für familiäre Verhältnisse) zurückgelegt und mindestens zwei Pflichtbesuche im Iran von unserer Liste gestrichen: Persepolis und Shiraz. Sie würden uns sicherlich eine Woche kosten, die wir in wirklich unerträglicher Hitze verbrächten. Das ist wohl der wichtigste Grund, weshalb wir so kurz vor Isfahan gen Westen in die bis zu 4500 Meter hohen Berge des Zagros-Gebirges schwenken.

Schon lange registrieren wir abseits der festen Siedlungen in einfachen Schilfhütten oder Zelten hausende Menschen, die Nomaden, genauer die Bachtiaren. Sie ziehen auf der Suche nach Weideland für ihre Schaf- und Ziegenherden zum Sommer in die Berge des Zagros und zum Winter ins mesopotamische Tiefland.

Themawechsel: Weil wir gerade zu dem Preis für Einheimische getankt haben, wollen wir eine kleine Rechnung aufmachen. Der Liter Diesel kostet 1500 Rial, das sind 150 Tuman, das sind im Sommer 2011 weniger als 9 Euro-Cent. Wir verbrauchen auf 100 Kilometer circa 11,5 Liter Diesel, also gut 1 Euro! Es gab hier in den letzten Jahren enorme Preiserhöhungen. Viele Iraner beschweren sich darüber. Noch an der Grenze hatten wir von Treibstoffschmugglern erfahren, dass 1 Liter Diesel in den 90ern im Irak etwa 1 US-Cent kostete. – Nun bitte wieder beruhigen.

Der Ort Chelgerd liegt mit einer Höhe von 2300 Metern ideal als Ausgangsort für Wanderer und Kletterer im Sommer und Skifahrer und Snowboarder im Winter. Koohrang, so der Name dieser Region, ist ein echter Geheimtipp für Wintersportler, die garantiert unberührten Tiefschnee suchen. Erstmalig auf der Reise wollen wir uns vor das einzige Hotel im Ort zum Übernachten stellen. Wir hatten aus anderen Blogs und Büchern darüber gelesen, dass dies bei vielen Overlandern längst gängige Praxis ist, um sich Zugang zu Sicherheit, Hygiene, Nahrung und Kommunikation zu verschaffen. Bislang hielten wir es nicht für notwendig, doch hier ist es anders. Die fast mittellosen Nomaden leben kulturell bedingt offener, mehr in der Natur, daher näher an der Straße und daher näher an uns als die sesshaften Iraner, die sich in ihren Häusern geradezu verschanzen. Bereits im Dunkeln fahren wir an einem Mann mit schlohweißem Haar vorbei als wir das Hotel Koohrang erreichen. Es stellt sich heraus, dass er der Besitzer des Hotels ist. Zu seiner faszinierenden Erscheinung kommt hinzu, dass er fließend Deutsch spricht – und Englisch sowieso. Wir haben sofort Sympathien für diesen Parviz Satwat und er vielleicht auch für uns als, denn er bietet uns den Hotelaufenthalt (Hotelzimmer) für einen Freundschaftspreis an. Wir sagen zu und genießen ab sofort den Komfort, den uns das hoteleigene Restaurant bietet. Es ist sehr ruhig hier. In diese abseitige Gegend finden kaum Touristen. Parviz nimmt sich viel Zeit für uns. Wir fühlen uns so wohl hier, dass wir 4 Nächte bleiben. (Die Adresse: Hotel Koohrang, Cahar Mahale-ya Bakhtiyari, Koohrang Province / Chelgerd, Iran, Telefon: 0098 382762 2302-9, Mobil: 0098 914 1144030.) Mit ihm, der das Hotel mit seinem Studienfreund nach langen Jahren des Aufenthalts in Österreich und den USA zusammen aufgebaut hat, schauen wir tief in die Abgründe dieses Landes. Auf einer gemeinsamen Jeep-Tour erfahren wir mehr vom harten Leben der einst so stolzen Nomaden. Heute können sie sich kaum selbst versorgen und sind auf Almosen angewiesen.

Wir fühlen uns nun körperlich gerüstet den Schritt in den Glutofen zu wagen. Isfahan ruft!

Wir sind Aliens

Wir befreien uns aus den Klauen unserer Gastgeber und steuern auf eine hoch in den Bergen gelegene Mineralquelle in Kandovan, um einerseits unsere Wasserkanister zu füllen und uns andererseits auf 2200 Metern Höhe etwas abzukühlen. Und wieder werden wir umgarnt, reißt sich die ganze Familie um unsere Tochter und werden wir zum Bleiben in einem der zahllosen schattigen Picknickplätze aufgefordert. Bei Tee, Essen und Wasserpfeife zeigt uns der Onkel der Familie alte persische Musikvideos auf seinem Handy und schwärmt vom Tanzen und Feiern vor der Islamischen Revolution.

Als wir aufbrechen, halten wir gleich wieder an und legen den Rückwärtsgang ein, denn unter dem Einheitsbrei des iranischen Fahrzeugsortiments hat sich ein fremdes, gewaltiges Wohnmobil gemischt. Die beiden Franzosen sind seit 4 Jahren (!) mit ihren 4 Kindern (!) in der ganzen (!) Welt unterwegs. Sie berichten von den gerade durchlebten Strapazen in Indien und von dem Glück nun hier zu sein. Auch sie unterrichten ihre Kinder unterwegs und halten ihre Erlebnisse in einem Blog fest. Wir verbeugen uns innerlich vor Ihnen.

Die Nacht verbringen wir endlich einmal wieder allein am idyllischen Ufer des Zarrine, nicht um zuvor wieder von den einzigen Anwesenden auf ihre Decke eingeladen zu werden. Es sind zwei Männer mit ihren Frauen. (Bei uns würden wir vielleicht von zwei Paaren reden. So stark, aber subtil werden wir von der ausgesprochen patriarchalischen Gesellschaftsordnung manipuliert.) Die beiden sind Polizisten und bieten Niklas Alkohol an. Wir rufen in Erinnerung, dass Alkohol verboten ist und sein Besitz sehr streng bestraft wird. Die Situation ist zu skurril. Niklas lehnt ab.

Seit einer Woche sind wir nun schon im Iran unterwegs, seit zweieinhalb Monaten auf Achse und seit circa 3 Monaten von unserer Festwohnung getrennt. Wir werden mit immer neuen Situationen konfrontiert. Währungen, Sprachen, Kleiderordnung bei extremen Temperaturen, Nahrungsbeschaffung, Kinderunterhaltung sind einige Stichworte. Aber unser größtes Problem ist, dass uns unser einjähriges Kind nicht durchschlafen lässt. Gegen die permanente Müdigkeit können wir nicht viel ausrichten. Besonders bei nächtlichen Fahrten wird Niklas von Nikita gewaltsam zum Wachbleiben animiert (Schlag auf den Hinterkopf). Wie sie selbst wach bleibt ist ein Rätsel. Und auch ständig zusammengepfercht sein, den Anderen nicht einmal aus dem Weg gehen zu können, ist sehr anstrengend. Unsere Laune ist nicht das erste Mal auf einem Tiefpunkt.

Zurück auf die Straße und von da aus direkt an den Zendan-i Sulaiman (Zendan-e Soleyman), das Gefängnis des Salomo. Hier hat aus dem Erdinnern aufsteigendes kalkhaltiges Wasser über Jahrmillionen einen 110 Meter hohen Kalkkegel aufgebaut. Ein Erdbeben hat das Gestein reißen und den Kegel auslaufen lassen. Zurück bleibt ein 70 Meter breites und 100 Meter tiefes Kraterloch mit senkrecht abfallenden Wänden. Einfach schwindelerregend. Im 3 Kilometer entfernten Tacht-e Sulaiman (Takht-e Soleyman), dem Thron des Salomo, ist das Wasser noch da, bildet aber ein Plateau, keinen Bergkegel, so dass dieser Ort in der Vergangenheit die ideale Grundlage für Festungen, Paläste, Schlösser und religiöse Zeremonien bot.

Wohin wir auch kommen, erregen wir Aufsehen und Neugier bei den verschiedensten Menschen. So auch in Sanandadsch (Sanandaj), wo wir von einem Schwulen angesprochen werden. Aktive Homosexuelle im Iran werden mit der Todesstrafe bestraft. Von seiner Familie, insbesondere von seinem Vater wird er verleugnet. Weil er keinen Wehrdienst geleistet hat, bekommt er keinen Reisepass, um immerhin die Ausreise in ein anderes Land versuchen zu können. Immer mehr Iraner bekommen mittlerweile die Einreise in ein westliches Land verweigert. Der Wehrdienst geht zwei Jahre lang. Für einen Schwulen ist er sehr riskant. Wie sehr wir für ihn eine wage Hoffnung oder Trostsuche sind, wird uns klar, weil er schon am Abend zuvor Kontakt zu Nikita aufnahm und leidenschaftlich einen Song von Michael Jackson interpretierte, dann von der Polizei von uns fern gehalten wurde und tags darauf mit Tränen in den Augen all dies erzählte. Zu keiner Zeit fühlen wir uns von ihm belästigt. Und überhaupt fühlten wir uns noch nie von den Iranern belästigt. Diese Menschen sind bei ihrer Kontaktsuche zwar sehr euphorisch, aber auch respektvoll, mitunter sogar demütig. Bei der Verabschiedung kann er seine Tränen nicht mehr verbergen. Wir machen uns Sorgen.

Wir sind jetzt in Kordestan. Der Großteil der hier Lebenden sind Kurden. In der Hauptstadt Kermanschah wollen wir die Nacht auf einem großen befahrbaren Parkgelände direkt neben einem Kinderspielplatz verbringen, der unweit des Reliefs von Taq-e Bostan ist. Für uns alle ist das Relief aber etwas langweilig und wohl nur für Geschichts- oder Kunstkenner interessant. Im Park zurück verhängen wir erstmalig den großen Schiebetüreingang und die geöffneten Fenster mit leichten Stoffen, um Luft rein aber neugierige Blicke draußen zu lassen. Trotzdem fühlen wir uns unwohl, weil wir ständig Angst haben, dass uns doch jemand halb nackt (anders ist es nicht mehr auszuhalten) im Wohnmobil sieht. Die Kinder und Jugendlichen, die wir ständig verscheuchen müssen, geben uns Anlass dazu.

30 Kilometer weiter westlich, entlang der alten Königsstraße, die die hochentwickelten Kulturen des Zweistromlandes mit dem iranischen Hochland und Zentralasien verband, wollen wir uns das Relief des Darius anschauen. Was der Stein von Rosetta für die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen bedeutet, ist die dreisprachige Tafel für die Entzifferung der Keilschrift.

In der schattenreichen Oase, die sich vor den steilen Felshängen gebildet hat, treffen wir auf eine Militärtruppe im Beisein eines jungen Geistlichen. Etwas eigenartig ist die darauf folgende freundliche Geste des Mullahs sich mit uns fotografieren lassen zu wollen. Vielleicht hat er sich mit uns in den Vordergrund seiner Truppe spielen und seine Offenheit demonstrieren wollen. Vielleicht hat er seinen Männern zeigen wollen, dass sie ihre Neugier auf uns in seiner Gegenwart nicht zügeln müssen. Wir wissen es nicht – wie so oft und so vieles, wenn wir allein sind.

Wir flüchten ins Auto. Nur raus aus dem heißen Tal. Jeder gewonnene Höhenmeter auf unserem Navi wird von Niklas am Außenthermometer überprüft und gefeiert, jeder verlorene aber ganz still hingenommen. Und während unser großes Kind seinen Spaß bei „Ice Age“ hat, turnt unser jüngstes auf dem Schoß seiner Mutter, die gedanklich schon viel weiter bei etwas viel Besserem ist.

Unsere Gedanken kreisen um eine Frage: Wo finden wir einen natürlichen Schutz vor Sonnenstrahlung und Hitze?

Im Innern des Dämonen

Schon in Georgien überschritten wir nicht nur eine religiöse, eine sprachliche und eine kulturelle Grenze, sondern auch eine klimatisch-vegetative. Und wieder stürzen wir mit dem Grenzwechsel von über 2500 auf gerade einmal 550 Meter über dem Meeresspiegel. Unerbittlich heiß, staubig und trocken ist es nun und in Kombination mit den langen Sachen und dem Kopftuch für Nikita unerträglich. Sie flucht. Doch nun endlich, am Samstag Vormittag nach vielen Unterschriften, Fingerabdrücken, 220 US$, 4 Stunden Wartezeit und die Zulassungsbescheinigung Teil II im Gewahrsam des Versicherers erhalten wir die nötigen Papiere, um in den Iran einzureisen. Wegen der an der Grenze verbleibenden Zulassungsbescheinigung Teil II können wir jedoch in kein weiteres Land fahren, sondern müssen über diesen Grenzübergang auch wieder den Iran verlassen!

Wir sind mächtig unsicher inwieweit wir unser Verhalten dieser Kultur anpassen sollten.

Unser erster Anlaufpunkt im Iran ist der Daryacheh-ye Orumiyeh, ein Salzsee. Laut Reiseführer (Reise Know How) sollen es hier Heilbäder und eine Badestelle geben. Auf dem Weg dahin machen wir unsere erste Tankerfahrung. Der Tankwart kommt uns der Lösung unseres Problems, der fehlenden Tankkarte, zuvor. Er stellt ganz selbstverständlich eine zur Verfügung. Wir tanken Diesel für 0,178 EUR pro Liter! Ein voller Tank (70 Liter) für 12,50 EUR. Die Freude ist groß. Ein paar Kilometer weiter (in der Türkei) zahlten wir knapp das Zehnfache! Angesichts der guten Straßenqualität kein Grund mehr langsam zu fahren. Doch Vorsicht! Nicht übertreiben. Denn so todesmutig und schmalsichtig wie die Iraner haben wir noch keine Nation hinterm Steuer sitzen sehen.

Wir haben eine Ahnung, dass wir überrascht sein werden, wissen aber noch nicht wie.

Der Salzsee zeigt sich uns in einer geisterhaft-menschenleeren Tourismuskulisse. Vor 5 bis 6 Jahren sank der Wasserstand des Sees, das Wasser zog sich um hunderte Meter weit zurück und hinterließ die Einrichtungen der einheimischen Tourismusindustrie. Enttäuscht suchen wir den Weg zurück ins nahegelegene Sharafkhaneh. Ein Dorf, wo wir die vielleicht beste Bekanntschaft auf unserer Reise machen. Auf der Straße hält ein weißer PKW, aus dem ein freundlicher Mann aussteigt, den alle als ihren „Bruder“ (Er ist der Bürgermeister.) bezeichnen, und erkundigt sich, ob er uns helfen kann. Wir erklären, dass wir eine Einkaufsmöglichkeit suchen. Kurz darauf hält ein weiterer Wagen, vollbesetzt mit Frauen (mit Kopftuch und Tschador): Mutter, Tochter, Tante, Cousine. Es wird hektisch. Alle wollen uns gleichzeitig helfen. Und dann können wir uns der Freundlichkeit der englischsprechenden Ghazaaleh und ihrer Familie nicht erwehren und fahren zum Laden des Vaters, denken einzukaufen, doch werden stattdessen beschenkt. Wir werden zum Essen eingeladen, zum Übernachten, der in Deutschland lebende Bruder wird angerufen, er soll vermitteln wie sie uns helfen können, wir tauschen Adressen, machen Fotos und erinnern uns, dass wir ursprünglich zu diesem Salzsee baden fahren wollten. Also werden wir dahin eskortiert. Man nimmt sich (wie selbstverständlich) Zeit für uns. Für uns als Westeuropäer ist es unbegreiflich. Wir sind beschämt. Würden wir einen Fremden bei uns doch niemals so fürstlich empfangen. Die Nacht verbringen wir allein auf einem Grundstück der Tante, direkt am trockenen Ufer des Daryacheh-ye Orumiyeh. Das Baden ist wieder einmal vergessen. Es ist zu aufregend für uns alle. Tag eins im Iran – wow.

Tag zwei. Man stelle sich am Rande eines Salzsees ein von circa 2 Meter hohen rohen Betonsteinmauern (wie so vieles hier) umschlossenes Refugium vor, in dessen einem Teil eine orangefarbene Blechbox auf steinigen und mit vertrocknetem Gras durchsetzten Boden steht, in dessen anderen Teil kleinblättrige Obstbäume nach Wasser dursten. Diesen Tag verbringen wir mit Freunden – mit Ghazaaleh und Ihrer Familie. Wir sind aufeinander so neugierig, dass wir tiefe Einblicke in die Familie und die Lebenskultur dieser Menschen erhalten. Wir wissen nun, das Kopftuch oder sagen wir besser der Kopftuchzwang ist verhasst. Und doch ist das Kopftuch nicht wegzudenken. Auf dem Land oder in strengen islamischen Familien trägt die Einheimische besser einen Tschador (auch über dem Kopftuch). Lebt sie in der Stadt oder weniger streng islamisch, gar westlich orientierten Familien, genügt das Kopftuch. Sie trägt es außerhalb ihres Hauses immer. Tut sie es nicht, muss sie um üble Nachrede bis hin zu einer Inhaftierung fürchten. Ist die iranische Frau bei Freunden zu Besuch kann sie ihre Kopfbedeckung absetzen. Ist ein außerhalb der Familie stehender Mann dabei, sollte sie sie besser auflassen. Das Kopftuch schützt vor Blicken der Männer, im Winter vor Kälte. Es quält im Sommer, nervt bei Wind und bei vielen Aktivitäten. Es zwingt die Frau zur Passivität. Der Tschador wurde 1936 unter Reza Schah Pahlavi verboten. Das Verbot wurde 1942 von seinem Sohn Mohammad Reza Pahlavi unter Druck von Ayatollah Gomi wieder aufgehoben. Seit 1979 ist der Tschador das Symbol der Islamischen Revolution.

Wir sind dankbar für ihr Vertrauen. Das ist nicht selbstverständlich, denn in diesem Land ist Vorsicht ein hohes Gebot. Untereinander sind die Menschen politisch längst nicht so offen wie zu uns Ausländern. Später dazu mehr.

Es ist schon spät. Als unsere Kinder auch noch auf dem Boden einschlafen, ist klar, dass wir nun auch hier eine Nacht verbringen. Geschlafen und gegessen wird im Iran traditionell auf dem Boden. Am nächsten Morgen, dem dritten Tag, entschließt sich Ghazaaleh mit uns nach Täbris zu ihrer Tante und ihre Cousine, Shahnaaz zu fahren, die uns ja bereits am ersten Abend eingeladen hatten. Unterwegs treffen wir aber noch Ghazaalehs Bruder mit seiner Familie, die uns nach Täbris begleiten und dort ins aserbaidschanische Museum einladen. Der Großteil der hier lebenden Iraner begreifen sich als Aserbaidschaner. Die Sprache der Aserbaidschaner ist dem Türkischem sehr nahe. Sie sprechen Türkisch als Muttersprache und Persisch als Zweitsprache.

Von Shahnaaz und ihrer Mutter werden wir fürstlich empfangen. Wir residieren – regelrecht – bei aufgeklärten Bürgern der Mittelschicht, die einen gewissen weltlichen Abstand zur ihrer Religion haben und sich kritisch mit politischen Ereignissen im eigenen Land und dem Ausland auseinandersetzen. Die zwei Nächte, die wir hier bleiben, werden lang. Wir schließen Fenster, reden mit gedämpfter Stimme und bekommen immer wieder Gänsehaut. Wir erfahren von der Sepah, der Iranischen Revolutionsgarde. Eine Militärische Organisation, die dem Schutz des Regimes dient, in dem es fast alle Bereiche der Politik und der Wirtschaft unterwandert hat. (Die Links im Text dürfen angeklickt werden!) Wenn eine solche Organisation so komplex wirkt, wird klar, warum ein Teil der Iraner an Paranoia krankt. Wie wichtig sie aber für alle Andersdenkende ist, wird deutlich, als selbst bei einer Trauerfeier um einen ermordeten Dissidenten alle Anwesenden kaltblütig ermordet wurden. Als wir von dem Buch „Iran ist anders“ erzählen, das uns in Deutschland auf den Iran vorbereitet hat, ist die Neugier und später die Angst groß. Denn als unsere Gastgeber darin ein Gedicht über Neda Agha-Soltan sehen, begreifen sie die Brisanz dieses Buches. Man empfiehlt uns spontan, das Buch zu verbrennen. Nach einiger gemeinsamer Überlegung entschließen wir uns, es doch zu behalten. Das Mädchen Neda wurde bei den Aufständen 2009 von einem Scharfschützen, vermutlich einem der Basidsch, tödlich getroffen. Ihr Sterben wird mit einem Handy aufgezeichnet und im Internet veröffentlicht, darin ihr Vater und die Menschen um sie herum sie zum Bleiben anflehen. Das folgende traurige Gedicht ist nicht allein ein Requiem auf Neda, die Märtyrerin. Es ist auch der verzweifelte Anruf an die Stimme des iranischen Volkes, denn Neda heißt auch „die Stimme“. Lest:

Neda, bleib
Das Zwitschern der Vögel in den Gassen
Das grüne Kleid der Wälder und der Duft der Blüten
Sagen: der Frühling ist da
Geh nicht, Neda

Neda, bleib
Sing mit deinen Leuten in der Gasse
Sag: es lebe das Leben und es sterbe der Tod
Sag: die Sonne soll scheinen, der Hagel aufhören
Neda, bleib

Neda, schau dir die Stadt an
Die Fundamente der Paläste wanken
Höher als je streben die Platanen der Vali Asr
Die Straßen sind voller Abschaum
Für einige wird die Luft dünn

Neda, hab keine Angst
Was du hörst sind nicht Schüsse, es sind Knallfrösche
Funken, die uns in Brand setzen
Wir brennen
Schlagstock und Gewehr
Entflammen uns noch mehr

Neda, bleib
Vom Horizont kommt die Nachricht
Die Morgenröte sei angebrochen
Der Morgen kommt

Neda! Neda!
Atme tief ein
Steh auf
Brich den Käfig auf

Geh nicht, Neda
Warte
Schau hinter die Wolken
Ein Guckloch
Die Sonne will kommen
Wie Du „nur“ eine Frau

Neda, geh nicht
Neda, bei Gott, geh nicht…

Zugegeben, das ist nicht gerade leichte Kost, und die letzten Absätze klingen wie aus einem politischen Roman. Doch der Iran ist für uns natürlich mehr als das. Er ist auch UNESCO Welterbe. Er ist: Basar von Täbris! Ein 7 km² großer Organismus. Im Quadrat wären das 2,64 mal 2,64 Kilometer! Wo fängt er an, wo hört er auf? Für einen Westeuropäer vollkommen unübersichtlich, aber dank Shahnaaz und Ghazaaleh nicht unüberwindlich und vielleicht auch wie aus Tausendundeiner Nacht, wären da nicht die dominierenden chinesischen Plastikimporte. Trotzdem haben hier Handwerk und Tradition noch Wert.

Was uns immer ein Rätsel bleiben wird ist die Faszination der Iraner für den El-Goli Park in Täbris. Vielleicht ist da ja noch mehr als dieser quadratische See, in dessen Mitte sich die zum Restaurant umfunktionierte einstmalige Sommerresidenz der Dynastie der Qadjars befindet? Der Jahrmarkt etwa? Die persische Kitschkutsche? Für Elias und mich, Niklas ist es dann doch das Schnellboot, was auf dem im Vergleich zur Geschwindigkeit winzigen See wahrhaft Schmetterlinge in unsere Bäuche zaubert. – Extrafahrt, dank neuem Vitamin B. Danke!

Unsere Gastgeber schaffen es, dass wir uns pudelwohl fühlen. Wir müssen uns einfach um fast nichts kümmern. Und selbst die Kinder werden uns abgenommen – längerfristig. Also nicht, um sie mal kurz zu drücken, nein, um uns zu entlasten! Wir sind Ghazaaleh, Shahnaaz, Ihren Müttern, die uns außerordentlich bewirtet haben, und Vätern sehr dankbar. Ihr habt uns einen ganz besonderen Einstieg in dieses Land gegeben.

In der Grenze

Wir sind auf iranischer Seite! Doch weiter geht’s noch nicht. Wegen des fehlenden Carnets müssen wir noch zwei Nächte auf dem Grenzgelände verbringen. Zwischen den beiden Nächten liegt Freitag, der einzig freie Tag im Iran. Aber Glück im Unglück: Wir legen endlich mal die Beine hoch und die Kinder planschen in den Transportkisten. Erst am Sonnabend wird man uns ein Zollpapier aushändigen. Eventuell eine Art Carnet de Passages? Was uns morgen früh erwartet, können wir noch nicht sagen.

Russland grüßt (Georgien und Armenien)

Nicht nur ein religiöser Übergang erwartet uns an der Grenze, sondern auch gleich ein (ehemals) ideologischer und wirtschaftlicher. Wir sind im Land der Ladas, Wolgas und schweren, dreckigen und im Verbrauch maßlosen Russen-LKWs. Wir sind auch im Land unserer Kindheit. Vertrautes (z. B. die kyrillische Schrift) gesellt sich zu Unbekanntem (z. B. die georgische Schrift). Ein überaus faszinierender Mix. Das sowjetische Erbe vergeht hier nur langsam, während das neue Russland seine alten Verbindungen nutzt, um nun nach kapitalistischem Muster seine Waren abzusetzen.

Jetzt in Georgien stellen wir fest, dass wir von der Türkei gesättigt sind. Hier sehen wir allerorts eindrucksvolle Bauwerke, kunstvolle Verzierungen, alte Burgen. Davon gab es nicht viele in der Türkei. Wir streifen eigentlich nur Georgien (siehe Route) und doch erlauben wir uns eine bedingungslose Reiseempfehlung auszusprechen. Für wie wir Reisende sprechen geringe Sprit- und Lebensmittelpreise, spektakuläre Berge (der Kaukasus ist schließlich auch noch da), und es ist über das Schwarze Meer schnell erreichbar. Uns gefällt es so gut hier, dass wir erwägen den Rückweg von Poti, Georgien nach Varna, Bulgarien übers Meer zu nehmen. Das spart viel Zeit, von der wir nicht mehr so viel haben.

Noch am Abend kommen wir an der armenischen Grenze an. Es folgt ein rekordverdächtiger Grenzaufenthalt von circa 4,5 Stunden. Noch nie haben wir so viel unterschreiben müssen (circa 20 Unterschriften). Die mühseligen bürokratischen Strukturen von einst sind nicht überwunden, beschweren sich die Armenier selbst. Dabei kostete das Visum für einen Erwachsenen 3000 AMD (sprich: Dram) = 5,50 EUR; Kinder kostenlos. Die Autoversicherung ist der langwierigste Teil. Wir haben das Glück einen seit 1983 in Schwerin lebenden Armenier kennenzulernen. Durch ihn zahlen wir die Versicherungssumme eines PKWs (das ist nicht ungewöhnlich), mit allem Drum und Dran circa 24000 AMD = 44 EUR. Insgesamt ließen wir an der Grenze also 55 EUR. Wir wissen nun auch: Ohne zu drängeln und zu nerven geht’s nicht weiter.

Die erste Bekanntschaft mit Armenien machen wir also in der Nacht. Wie schon in Georgien sind die Straßen teilweise so schlecht, dass wir den Schlaglöchern nicht mehr ausweichen können und sie langsam durchfahren müssen. Das erzeugt ein durchschnittliches Tempo von vielleicht 50 km/h. Doch nach Jerewan ist es nicht mehr weit. Als wir ankommen sind wir abermals fasziniert von dieser Anderthalb-Millionen-Stadt. Das Sprachen- und Schriftenwirrwarr reicht von Armenisch über Russisch (Kyrillisch) nach Englisch (Lateinisch). Empfanden wir auf unserem Weg durch die Türkei viele große Städte (Istanbul ausgenommen) als Verdichtung dörflicher Strukturen und Lebensweisen, hebt sich Jerewan durch eine U-Bahn, ein Oberleitungsbussystem, einen geordneteren Straßenverkehr, viele Wohnhausblöcke und dafür nur wenige Wohnhütten, monumentale Architektur und viel Angeberei (Männer: Auto; Frauen: Brüste) in den Rang einer westlichen aber exotischen Großstadt. Vielleicht ist diese Einschätzung unserer Unwissenheit hinsichtlich der Gesellschaftsstrukturen in der Türkei geschuldet. – Wie werden wir den Iran begreifen? – Und insgesamt sind die Georgier und Armenier uns gegenüber etwas zurückhaltender als die Türken.

In Jerewan steuern wir Mercedes-Benz an um die linke Fixierung des Stabilisators zu reparieren. Die Gummimuffe war vorrätig, nicht jedoch der Stahlbügel. Er wurde kurzerhand vom Chef persönlich zurechtgeflext und -gebogen. Auf dem dahinter liegenden Markt sind unsere Kinder wieder Stars. Elias bekommt zwei lebendige Krebse, die er später aussetzen will, jedoch ewig herumschleppen wird, dass sie dann doch verrecken. Die Kinder bekommen noch viel mehr, wir sogar Wein ausgeschenkt. Und endlich eine gute Salami aus Schweinefleisch!

Außerdem besorgen wir uns wieder mobiles Internet von VIVAcell. Der für Touristen unkomplizierte Tarif „MTS Connect Classic Prepaid“ kostet 5000 AMD, 9 €, gilt 180 Tage lang und hat eine MB-basierte Abrechnung (pro 1 MB 11 AMD, 0,02 EUR bzw. 5 AMD, 0,01 EUR [tageszeitabhängig]). Einen speziellen UMTS/HSPA-USB-Stick braucht man nicht, sofern man in der Software seines eigenen Sticks die Zugangsdaten von VIVAcell eintragen kann.

Der Weg südlich zur iranischen Grenze ist spektakulär. Wir fahren die bisher längsten Serpentinen. Die Täler reichen bis auf 550 Meter runter, die Pässe bis auf 2550 Meter, die Berge natürlich noch viel höher. Der Weg führt entlang des umkämpften Gebiets Bergkarabach. Etwas widersprüchlich ist unsere Vorstellung von der Sicherheit dieses Gebiets. Einerseits soll es, laut Auswärtigem Amts, an der Grenze gelegentlich zu Schusswechseln kommen, andererseits werden wir wegen seiner Schönheit von den Einheimischen immer wieder beschworen, dort hineinzufahren.

Doch morgen früh versuchen wir erst einmal den Grenzübertritt in den Iran. Wir sind mächtig aufgeregt, nicht allein wegen des fehlenden Carnets, sondern auch weil uns noch ein langes untailiertes Gewand für Nikita fehlt.

Im wilden Osten

Wir machen, anders als in Europa, ständig neue flüchtige Bekanntschaften. Danach ist es für mich immer wieder ein kindlich-aufregendes Gefühl in die Gestalt eines zuvor so fremd und weit entfernten Menschen zu schlüpfen. Wie erleben sie diese entlegenen Orte als Zentrum der Welt? Welche Vorstellungen haben sie von der unsrigen? Was sind ihre Werte? Welchen Eindruck machen wir auf diese Menschen? Wie sieht ihr Alltag aus? Wir wissen ja nicht viel, aber eines: Alles ist ganz anders.

Auf dem Weg weiter in Richtung armenische Grenze schrecken wir auf als bewaffnete Gendarmen am Straßenrand vielleicht 20 mit den Händen hinterm Kopf kniende Männer bewachen. Eine Szenerie, die Angst macht. Hinter der Kurve sehen wir dann einen verunglückten Lastwagen. Wir atmen auf. Ich frage plump nach was hier los sei und man erklärt mir, dass es sich um einen illegalen Flüchtlingstransport aus Myanmar handelt. Das alles vor dem Hintergrund, dass wir in der Nacht zuvor, kurz nach Ankunft an unserem Übernachtungsort, eines verwaisten Teils des alten Hauptstraßenverlaufs im Flusstal, einen Schuss hörten. Wähnten wir uns doch in vollkommener Einsamkeit. Auch vor dem Hintergrund, dass dann am nächsten Morgen ein ungewöhnlich großgewachsener Hirte mit sehr ernstem Gesicht und Hirtenstab zu uns kam und sich als Soldat ausgab, dabei die Worte PKK und Militär in den Mund nahm und sich dann Zettel und Stift von uns geben ließ, um sich unser Kennzeichen zu notieren. Und beide Orte, Übernachtungsplatz und Unfall, sind gerade mal 2 Kilometer voneinander in diesem menschenleeren Landesteil entfernt. Ich mache also Fotos von der Szenerie, und es dauert nicht lange bis sie es bemerken und auf uns schnell zuschreiten. Mit dem Versprechen die Bilder zu löschen dürfen wir weiter fahren.

Der Ort Kars ist fürchterlich und für uns auch nur deshalb interessant, weil hier die Sackgasse von und nach Ani entlangführt. Das Fahren über 30 km/h ist nur selten möglich, weil die gesamte Stadt zwar gepflastert, aber unvorstellbar zerlöchert und zerfurcht ist. Die Winter müssen erbarmungslos sein. Leicht vorstellbar wie hier Tausende Armenier allein bei Flucht und Deportation erfroren sein müssen. Der Völkermord an den Armeniern wird bis heute von der türkischen Regierung geleugnet.

Seit längerem befinden wir uns auf ehemalig armenischen Territorium. Die Ruinen der einstigen armenischen Hauptstadt Ani befinden sich direkt an der Grenze zum heutigen Armenien. Die Region Kars besteht aus einem recht langweiligen Hochplateau zwischen 1500 und 2100 Metern Höhe ohne Bäume, kaum Sträuchern aber rundgelutschten grünen Hügeln, vielen Kühen und Hirten. Von den gewaltigen Mauern Anis sind wir beeindruckt, am nächsten Tag auch noch von seinen gewaltigen Ausmaßen. Wie schnell Erdbeben, Sonne, Regen und Schnee eine Stadt dieser Dimension zerstören können, erfahren wir jetzt – noch vor 700 Jahren eine völlig intakte Stadt. Das Ani vorgelagerte, armselige Dorf Ocakli steht im krassen Gegensatz dazu. Am Abend unserer Ankunft lernen wir Yunus Görunmez, Hirte, Bauer und Besitzer eines kleinen Einkaufladens kennen, der uns selbstgemachtes Fladenbrot, Käse und Butter spendiert. Mit Händen, Füßen und Wörterbuch verständigen wir uns. Er macht Butter, Käse, Brot selbst mit der Hand! Am nächsten Morgen führt uns Yunus persönlich durch die Ruinen. Wir bedanken uns mit ein paar selbst ausgedruckten Fotos von ihm, von uns und seiner Kuhherde. Das bekommt ein anderer Dorfbewohner mit und drängt uns, höflich aber hartnäckig, auch von ihm und seinen Kindern Fotos zu machen. Spätestens jetzt wird noch einmal deutlich, selbst wenn wir hier fast alle dem westlichen Standard entsprechenden Lebensmittel kaufen können, sind sie nur von einem Teil der hauptsächlich in den Städten Wohnenden bezahlbar.

Unser Ziel, der Scheitelpunkt unserer Reise, ist nach wie vor der Iran. Hierfür benötigen wir offiziell ein Zollpapier für unser Auto, ein Carnet de Passages. Da dies nur mit dem Hinterlegen eines extrem hohen Geldbetrages (wir schätzen zwischen 5000 und 10000 €) erhältlich ist und wir nicht nur im Falle des Falles unser Auto verlieren (Diebstahl, schwerer Unfall, schwere Panne), sondern auch noch dieses Geld, entscheiden wir uns dafür einem Tipp zu folgen und unser Glück an der Grenze zwischen Armenien und Iran herauszufordern und ohne das Carnet einzureisen. Mittlerweile hören wir auch von allen Seiten über Schwierigkeiten und Abzocken am türkisch-iranischen Grenzübergang bei Doğubeyazıt (Türkei – Iran).

Daher fahren wir weiter in Richtung Norden zu einem georgischen Grenzübergang, denn die Grenze zwischen Armenien und der Türkei ist dicht. Das Hochplateau lassen wir nun hinter uns, fahren den höchsten Pass (2565 Meter) unserer Reise bis dato, und unsere Stimmung hebt sich schlagartig, denn nun sehen wir das was wir lange nicht sahen: Wälder in den Bergen und tiefgrüne Wälder in den Tälern! Zu den hohen Bergen gesellen sich nun auch tiefe Täler (unter 1000 Meter) in denen es endlich warm ist. Georgien ruft!

Wir verbringen zwei Nächte in wunderschöner Landschaft noch auf türkischer Seite unweit einer Quelle. Doch bevor wir hinüber fahren, sehen wir, dass die rechte Fixierung (eine Schelle mit Gummimuffe) unseres Stabilisators an der Vorderachse weggebrochen und verloren ist.

Auf in den Osten

Seit einiger Zeit gibt unser Fahrzeug im Leerlauf klingelnde Geräusche von sich. Außerdem beschleicht uns das Gefühl, dass ein Federsegment der vorderen Blattfeder gebrochen ist. Haben wir auf einmal so wenig Federweg oder sind die Straßen schlechter geworden? Uns fehlt das Wissen wie viel Platz zwischen Gummianschlag und Radaufhängung ist. Also halten wir in Kayseri bei Mercedes Benz, wo sich sofort mehrere Angestellte um uns kümmern. Wir bekommen Tee ans Auto serviert und essen in der Kantine. Gute Nachricht: Die Blattfeder ist ok. Schlechte Nachricht: Die Lichtmaschine scheint langsam kaputt zu gehen. Weil Ersatzteile teuer sind und aus Deutschland bestellt werden müssten, entscheiden wir uns weiter zu fahren. Doch vorher möchten wir die Zahnarztlandschaft dieser Stadt kennenlernen und landen im bisher besten zahnmedizinischen Zentrum der Türkei. Guter Laune gehen wir noch rüber zu der alten seldschukischen Karawanserei und dem riesigen, prachtvollen Basar, kaufen dort ein Kopftuch für den Iran und lassen uns zeigen wie man es trägt.

Es geht weiter Richtung Osten, nach Balıklı Kaplıca, der langersehnten heißen Quelle mit seinen Doktorfischen. Und wahrlich, die Fische docken sofort scharenweise an. Die Bäder sind auch hier nach Geschlechtern getrennt, der Eintritt ist zu der Zeit kostenlos, ansonsten nicht teuer (5 TL, 2,20 EUR ?). Für Elias und Estha ein tolles Erlebnis.

Die Landschaft nach Divriği wird jetzt immer aufregender, doch richtig spektakulär ist sie dann zwischen Divriği und Erzincan. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus.

Bisher trafen wir nur in Kappadokien ähnlich wie wir mit dem Wohnmobil Reisende. Hier in Erzurum treffen wir abends auf einer Picknick Area (nur Toiletten und Quellwasser vorhanden) die Schweizer Romy und Miro (kurz: miromy) mit einem VW T3 Syncro auf dem Weg nach China. Und morgens machen wir Bekanntschaft mit einer in Spanien lebenden französischen Familie. Odile und Marc unterrichten 2 ihrer 3 Kinder Sophie, Nicolas + Alizé selbst. Wahnsinn!

Nikitas Zahnschmerzen führen uns fast direkt an die Lösung unseres Problems mit der Lichtmaschine. Zwei junge Zahnärzte interessieren sich für unsere Reise und so erzählen wir Ihnen kurz vor der endgültigen Verabschiedung (ja, das braucht oft mehrere Anläufe) von unserem Problem. Da sowieso gerade Mittagspause ist, werden wir zu einer kleinen auf Mercedes-Benz spezialisierten Werkstatt eskortiert, wo man erstaunlicherweise englisch spricht und unsere Lichtmaschine gegen eine gebrauchte austauscht. Es ist normalerweise sehr schwierig in einer fremden Stadt die Nadel im Heuhaufen zu finden. Und: Gegenüber ist eine kleine heruntergekommene, na sagen wir Pizzeria. Dort werden wir wie so oft zum Essen mit Zigarette eingeladen. Wir wähnen uns im Glück. Haben die Krankheiten nun auch ein Ende? Nikitas Infektion haben wir nun auch in hier behandeln lassen. Fazit: In Erzurum können wir leider nur dieses Krankenhaus empfehlen 😉

Kappadokien

Wir lösen uns endlich von Ankara und steuern auf Kappadokien zu. Es gehört zum Pflichtprogramm aller Türkeirundreisenden. Der Tourismus hat bewirkt, dass Kappadokien einerseits teuer, andererseits infrastrukturell immer mehr ausgebaut wird. Darüber freuen wir uns, weil Nikitas Krankengeschichte noch kein Ende nimmt. Hier gibt es ausgezeichnete Krankenhäuser (Hastane). Trotzdem, die Region ist nett anzuschauen. Doch der obligatorische Ballonflug ist uns zu teuer (ab 200 Euro) und Kinder dürfen erst ab 7 Jahren mitfahren. Dafür leisten wir uns das andere Highlight, und das ist die unterirdische Stadt Derinkuyu. Wir steigen das dreidimensionale System bis zu 55 Meter hinab. Alles ist eng, die Gänge teilweise sehr niedrig – nichts für Klaustrophobiker. Derinkuyu ist nicht die einzige unterirdische Stadt. Es gibt noch weitere, doch soll sie die tiefste und größte sein. Sicherlich bietet Kappadokien noch mehr touristisches Potenzial (Mountainbiking, Wandern), doch uns bleibt immer weniger Zeit für unser großes Ziel, den Iran.

Ankara

Die Fahrt nach Ankara ist ab Akşehir recht langweilig. Hier beginnt das Anatolische Plateau – riesige, recht trockene Landwirtschaftsflächen auf circa 1000 Metern Höhe. In Ankara bleiben wir vergleichsweise lang – 1½ Wochen, nicht weil uns diese Stadt so gut gefällt, sondern weil wir verschiedene Erledigungen machen müssen. Alles fängt an mit einem Zahnarztbesuch. In den folgenden Wochen lernen wir das türkische Gesundheitssystem kennen. Später dazu mehr. Dann beantragen wir unsere Iran-Visa. Vorher brauchen wir noch von der Deutschen Botschaft ein Empfehlungsschreiben. Wir bekommen einen Termin 2 Tage später um exakt 11:15 Uhr. – Deutsche Pünktlichkeit? Termine dieser Art einzuhalten sind wir nicht mehr gewohnt. Das Empfehlungsschreiben vergibt unsere Botschaft nur mürrisch. Sie macht unser Vorhaben madig. Zum Beispiel sollte die Bearbeitung unseres Iran-Visas bis zu 2 Monate dauern. Dagegen ist die Iranische Botschaft in Ankara ausgesprochen freundlich. Unsere Visa halten wir einen Tag (!) später in den Händen. Hätte die Bank zur Einzahlung noch geöffnet, erhielten wir unsere Visa noch am selben Tag. Pro Person kostet es 50 €. Kinder, die im Pass der Eltern stehen, bekommen kein eigenes Visum und zahlen nur 15 €, können jedoch auch ein eigenes Visum beantragen, sofern sie einen eigenen Pass besitzen, zahlen dann aber eben 50 €. Die Preise beziehen sich auf eine Bearbeitungszeit von circa 5 Tagen. Nur durch glückliche Umstände bekamen wir die Expressbearbeitung, die normalerweise 50 % Aufschlag kostet. Darüber hinaus – Iranreisende bitte nicht ärgern – benötigen wir noch nicht mal eine Referenznummer und brauchen von Nikita auch kein Passbild mit Kopftuch, wie bei uns in Berlin verlangt.

Zwangsweise lernen wir Ankara immer besser kennen. In einer Nebenstraße eines Armenviertels fahren wir uns nachts eine Schraube in den Reifen. Sofort wechseln wir den Reifen mit einem Gefühl der Unsicherheit. Ghettokids um uns. Wird hier noch etwas passieren? Es ist nichts passiert, doch nächsten Abend steuern wir im Stadtteil Ulus unseren nächsten Übernachtungsplatz an. Die Lage ist top. Wir haben einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt und befinden uns unmittelbar an der Altstadt. Kurz darauf werden wir Zeugen einer Gewalttat. Wir beobachten über die Seitenspiegel wie drei Autos halten, aus denen Männer steigen, dann wird jemand zusammengeschlagen. Wir fahren langsam weiter. Ein Taxifahrer hält uns zwei Minuten später an und erklärt uns, dass wir dieses Viertel in der Dunkelheit besser nicht aufsuchen sollten. In den nächsten Tagen sehen wir viele Armenviertel, dicht an dicht zur Schickeria auf den Hauptstraßen. Mancherorts stehen riesige Laternen. Das sind ufoartige, großflächige Reflektoren in vielleicht 30 Metern Höhe, die von gewaltigen Strahlern darunter beleuchtet werden, so dass das Licht großflächig in jede noch so kleine Pore des Molochs strahlt. Eine Form der Kriminalitätsprävention? Auffällig und unangenehm ist die Präsenz vielfältiger privater Security, der Polizei (Polis), der Gendarmerie (Jandarma) und des Militärs, wenngleich alle sehr freundlich sind. (Doch auch nur weil wir hellhäutig und blond sind und nach Geld aussehen und das, obwohl wir ungepflegter erscheinen als manch Bettler. Doch langsam fängt auch hier die dünne Mittelschicht an, das enge Korsett alter Etiketten abzulegen. Hier tragen sogar Ziegenhirten Anzüge.) Selbst knapp außerhalb Ankaras patrouilliert die Polizei abends auf einsamen Feldwegen, fragt nach Ausweisen und weist freundlich darauf hin, zu unserer Sicherheit die Türen von innen zu verschließen. Dass wir hier irgendwo übernachten, ist nie ein Problem.

Warum bleiben wir 1½ Wochen in Ankara? Nikita wird von Anfang an von Zahnschmerzen gepeinigt – nicht nur eines Zahns. Später kommt eine hartnäckige Infektion dazu. Im Lonely Planet (LP) lesen wir, dass die medizinische Versorgung in der Türkei dürftig ist. Wir werden auf die Webseite des Centrum für Reisemedizin verwiesen. Wir entscheiden uns daraufhin nach Ankara zu fahren. Unser erster Eindruck bestätigte die Aussage des LP, wir lernen aber immer bessere Adressen kennen und werden dort immer bevorzugt behandelt.

Bevor wir Ankara verlassen sehen wir natürlich noch das Anıtkabir (Gedenkstätte Atatürks). Die anschaulichen lebensgroßen Kriegsszenen aus den türkischen Befreiungskriegen hat Elias enorm beeindruckt. Niemand wird in der Türkei so grenzenlos glorifiziert wie Mustafa Kemal Atatürk. Ein Personenkult, der einem Deutschen nach dem 3. Reich erst einmal befremdlich ist. Wir haben uns daran gewöhnt.